27. November 2021

Unser Blick auf den Koalitionsvertrag!



Die Ampel-Koalition ist nicht das Bündnis, das wir uns gewünscht haben. Der Koalitionsvertrag erfüllt an vielen Stellen, beispielsweise in der Klima- und vor allem in der Sozialpolitik, nicht die gesellschaftlichen Notwendigkeiten.

Doch der Koalitionsvertrag eröffnet Möglichkeitsfenster für konkrete Verbesserungen für eine solidarischere Politik. Nach einer langen und intensiven Debatte auf unserem Länderrat, empfehlen wir daher unseren Mitgliedern die Zustimmung zum Koalitionsvertrag. Davon bleibt unberührt, dass jedes Mitglied eine freie und selbstbestimmte Entscheidung unter Beachtung der erfolgten Auswertung treffen kann.

Dies verknüpfen wir mit klaren Erwartungen und dem Vorhaben zusammen mit der Zivilgesellschaft für all die Projekte, die wir bisher nicht erkämpfen konnten, den Druck auf die Regierung hochzuhalten und für diese gesellschaftliche und politische Mehrheiten zu schaffen.

Den ganzen beschlossenen Antragstext findet ihr hier:

Erfolge umsetzen – neue Möglichkeiten erkämpfen

Am Mittwoch wurde der Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP vorgestellt. Unter dem Titel „Mehr Fortschritt wagen“ haben die drei Parteispitzen ihre Projekte für die nächsten vier Jahre vorgestellt. Als Grüne Jugend haben wir beim 55. Bundeskongress festgelegt, was wir von einer zukünftigen Regierung erwarten. Sie muss die Krisen unserer Zeit angehen, statt sie weiter zu verschärfen. Sie muss soziale Politik zum Grundpfeiler des Regierungshandelns machen, konsequent Menschen vor menschenunwürdigen Zuständen schützen und selbstverständlich den 1,5-Grad-Pfad einhalten.

Wir fordern: Spürbar mehr!

Wir haben auf dem 55. Bundeskongress beschlossen, dass ein Mitregieren von Bündnis 90/Die Grünen kein Selbstzweck ist. Wir unterstützen eine Regierungskoalition nur dann, wenn sich sowohl im Leben der Menschen spürbar etwas verbessert und die Klimakrise konsequent angegangen wird. Das muss unserer Maßstab sein, an dem wir das Regieren der Ampel messen werden.

Der Blick in den Vertrag

Klima

Im Koalitionsvertrag finden sich einige Maßnahmen, die im Klimabereich für längst notwendige Verbesserungen sorgen werden. Mit einem ehrgeizigen Ausbauziel für die erneuerbaren Energien und einem Kohleausstieg bis 2030 sind wir auf
einem guten Weg. Jedoch fehlt ein schneller und konsequenter Rückzug aus klimaschädlichen Subventionen. Im Verkehrsbereich wird fast ausschließlich auf E-Autos statt auf eine echte Verkehrswende gesetzt. Eine zeitlich verbindliche
Abkehr vom Verbrennungsmotor findet sich nicht im Koaltitionsvertrag. Wenn diese Regierung es nicht schafft, das Pariser Klimaschutzabkommen einzuhalten, ist sie gescheitert. Ob im Rahmen des Koalitionsvertrags das 1,5-Grad-Limit eingehalten werden kann, ist offen, aber im Gegensatz zu vergangenen Regierungen möglich. Die verankerten Verbesserungen sind deswegen möglich, weil wir es als Klimabewegung es in den letzten Jahren geschafft haben, großen Druck aufzubauen, der politische Veränderung notwendig macht. Und genau deswegen bleibt Klimagerechtigkeit auch in Zukunft Handarbeit! Wir werden weiter für 1,5-Grad-Politik kämpfen und dafür sorgen, dass versprochene Maßnahmen auch umgesetzt werden.

Soziales

In diesem Bereich konnten einige Erfolge erzielt werden, die wir als GRÜNE JUGEND in unserer Gerechtigkeitskampagne gefordert haben. Es soll eine Ausbildungsplatzgarantie geben, der Mindestlohn auf 12€ steigen und endlich eine Bafög-Reform umgesetzt werden. Außerdem können Kinder und Jugendliche mit der Kindergrundsicherung leichter aus Armut kommen.

Trotzdem werden die Grenzen einer Ampel-Koalition in Gerechtigkeitsfragen schnell ersichtlich. Obwohl es klare gesellschaftliche Mehrheiten für eine Entlastung niedriger Einkommen und eine höhere Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen gibt, wurde dieser Punkt bereits in den Sondierungen abgeräumt. Das ist kein Zufall: Der Kampf für mehr Gerechtigkeit ist ein Konflikt zwischen oben und unten. Wer die Privilegien der Wenigen nicht antasten will, schafft keine Gerechtigkeit für die Vielen.

Auch dringend benötigte Investitionen in Infrastruktur, bezahlbares Wohnen, Bildung und den Umbau der Wirtschaft werden nur mittels Fonds angegangen. Zwar sollen mehr Gelder fließen, doch eine Abkehr von der Schuldenbremse ist nicht in Sicht. Damit legt man sich selbst Steine in den Weg. Wenn wir jetzt nicht investieren, machen wir Schulden für die Zukunft. Wir werden die Koalition daran messen, ob sie es schafft, die notwendigen Investitionen für unsere Zukunft
wirklich zu realisieren.

Es wird eine Hartz-IV-Reform geben, aber solange die Regelsätze unter dem Existenzminimum liegen, und die Sanktionen nicht fallen, ist von einer Abschaffung nicht zu reden. Wir konnten erkämpfen, dass es ein Sanktionsmoratorium gibt, dass das Einkommen junger Menschen in Bedarfsgemeinschaften nicht mehr angerechnet wird und dass nicht mehr jeder Job
angenommen werden muss. Wir haben es als politische Linke jedoch nicht geschafft, dafür zu sorgen, dass niemand mehr unter dem Existenzminimum leben muss. Das ist eine Niederlage.

Die Mieten steigen seit Jahren vielerorts in Höhen, die sich immer mehr Menschen schlicht nicht leisten können. Um die Vertreibung aus Ballungszentren konsequent zu überwinden, brauchen Länder Möglichkeiten, eigenständige Maßnahmen zur Deckelung von Mieten zu beschließen. Dass man den Ländern diese Möglichkeiten nicht einräumt, ist ist ein fatales Zeichen für Mieter*innen und geht an der Wirklichkeit dieser Notlage vorbei. Die Mietpreisbremse wird schärfer, aber nicht scharf genug, um die Lage zu entspannen. Der Prüfauftrag zur Anwendung des Vorkaufsrechtes in Milieuschutzgebieten, ist zwar begrüßenswert, genügt aber alleine nicht, um die Mieter*innen vor den Kräften des freien Marktes zu schützen. Bestehende Gesetzeslücken müssen zeitnah geschlossen werden. Mieter*innenbewegungen zeigen, wie zuletzt Deutsche Wohnen & Co. Enteignen in Berlin, in immer mehr Städten, dass Wohnraum kein Mittel für immer mehr Rendite ist, sondern unsere Grundversorgung. Eine sozialgerechte Bodenordnung, die der ständigen Explosion der Bodenpreise Einhalt gebietet, ist dafür unerlässlich. Als GRÜNE JUGEND werden wir gemeinsam mit allen Mieter*innen nicht ruhen, bis alle ein gutes und bezahlbares Dach über dem Kopf haben.

Gesellschaft

Neben der überfälligen Cannabislegalisierung werden unter einer Ampel-Regierung einige wichtige Projekt umgesetzt. Feminist*innen und queerpolitische Aktivist*innen kämpfen seit Jahrzehnten für die Streichung von 219a und die
Abschaffung des Transsexuellengesetzes. Ihre Kämpfe werden endlich Einzug in die Gesetzgebung finden. Hier zeigt sich, dass wir als politische Linke Erfolge erringen können. Wir konnten gesellschaftliche Mehrheiten so organisieren, dass
niemand mehr an ihnen vorbeikommt. Auch die medizinische Versorgung für ungewollt Schwangere wird deutlich besser. Was leider auf der Strecke bleibt, sind deutliche Reformen in der Krankenhausfinanzierung und der Arbeitsbedingungen für Pfleger*innen. Hier sind zwar einheitliche Personalbemessungsgrenzen angekündigt, doch wer diese Personalstellen für welchen Lohn füllen soll, bleibt offen. Die im Koalitionsvertrag vorgeschlagenen Maßnahmen werden nicht ausreichen, den Pflegenotstand zu beenden. Es werden sich erst dann mehr Menschen für eine Arbeit in der Pflege entscheiden, wenn sich die Arbeitsbedingungen deutlich verbessern. Dafür streiken Pflegende in vielen Städten; und wir mit ihnen.

Antirassistische Initiativen werden durch die schnelle Schaffung eines Demokratiefördergesetzes deutlich besser ausfinanziert und gestärkt. Auch unabhängige Polizeibeauftragte und die pseudonyme Kennzeichnungspflicht für
Bundespolizist*innen sind wichtige Schritte, insbesondere für migrantisierte Menschen, die überdurchschnittlich häufig von Polizeigewalt betroffen sind. Das ist nicht zuletzt ein Erfolg der zahlreichen antirassistischen Initiativen, die in den letzten Monaten aktiv die öffentliche Debatte geprägt haben und mit denen wir uns solidarisieren.

Antirassistische Politik fängt aber schon dort an, wo Menschen aus ihrer Heimat fliehen müssen und aus Deutschland wieder abgeschoben werden. Wir kritisieren die Pläne für beschleunigte Rückführungen deutlich und stellen uns gegen
Migrationsabkommen, die das alleinige Ziel haben, Menschen ein sicheres Zuhause zu verweigern und in Lagern unterzubringen. Im Gegensatz zu den ständigen Verschärfungen in den letzten Jahren, gibt es jetzt, dank einer breiten
gesellschaftlichen Bewegung, einige hart erkämpfte Verbesserungen im Fluchtbereich. Die Abkehr von AnKER-Zentren als Ort der Kasernierung für Geflüchtete und das Ende der Kettenduldungen sind wichtige Schritte für geflüchtete Menschen in Deutschland. Gleiches gilt für den vereinfachten Zugang zur Staatsbürgerschaft und das Aufnahmeprogramm für Menschen aus Afghanistan. Es ist an der Zeit, Menschen aus Afghanistan zu evakuieren, denen wir eine Zukunft und Sicherheit schulden.

An linken Mehrheiten führt kein Weg vorbei. Aber es gibt auch keine Abkürzung zu ihnen.

Eine Ampel ist keine ideale Regierung. Im Koalitionsvertrag gibt es nicht so viele Verbesserungen wie gesellschaftlich notwendig wäre. Es geht nicht so schnell voran, wie Menschen es verdient hätten. Diejenigen, die kein Interesse daran haben, dass sich am Status Quo, der die Vermögen und Profite der wenigen schützt, etwas ändert, sind gut aufgestellt. Als gesellschaftliche Linke müssen wir stärker sein, um Konflikte zu gewinnen. Dieser Koalitionsvertrag zeigt wo wir stark sind und wo nicht. Klar ist, dass grüne Verhandler*innen sehr viel dafür gegeben haben, spürbare Verbesserungen für Menschen mit konsequentem Klimaschutz zu vereinen. Doch als politische Linke haben wir es bisher zu selten geschafft, Mehrheiten für soziale Politik zu organisieren, auch wenn sie der Mehrheit der Menschen zu einem besseren Leben verhelfen würde. Dieser Zustand spiegelt sich nicht nur darin wieder, dass es keine linke parlamentarische Mehrheit gibt, sondern auch darin, dass wir es als gesellschaftliche Linke in den letzten Jahren nicht geschafft haben, für soziale Politik und Gerechtigkeitsfragen den gleichen Druck aufzubauen wie in anderen Themengebieten. Wenn wir es nicht schaffen, die soziale Spaltung zu bekämpfen, dann steht der gesellschaftliche Zusammenhalt und damit auch unsere Demokratie auf dem Spiel.

Das heißt für uns: Soziale Themen müssen in den Mittelpunkt unserer politischen Arbeit rücken. Dazu gehört es auch, jetzt glaubhaft sozialpolitische Verbesserungen in der Regierung umzusetzen, damit Menschen wieder Vertrauen in politische Verbesserungen fassen können. Aber wir als Grüne Jugend müssen uns auch abseits von Regierungshandeln sozialen Fragen annehmen, mit eigenständigen Kampagnen und Projekten gesellschaftliche Mehrheiten organisieren und konkret das Leben vor Ort zu einem besseren gestalten. Mit unserer Gerechtigkeitskampagne zur Bundestagswahl haben wir gezeigt, warum die Bekämpfung der Klimakrise und die Kämpfe gegen Diskriminierung soziale Kämpfe sind. Diesen Kurs konsequent fortzuführen, muss unser Auftrag in den nächsten vier Jahren und darüber hinaus sein.

Möglichkeiten nutzen

In der Ampel gibt es wenig Rückschritte und einige, wichtige Verbesserungen. Sie eröffnen ein Möglichkeitsfenster für eine Politik, die das Leben von Menschen verbessern und die unsere Handlungsspielräume für weitergehende Verbesserungen
erweitern könnte. Wir als Grüne Jugend werden uns nicht gegen den Koalitionsvertrag stellen und empfehlen deswegen unseren Mitgliedern die Zustimmung zum Koalitionsvertrag. Davon bleibt unberührt, dass jedes Mitglied eine freie und selbstbestimmte Entscheidung unter Beachtung der erfolgten Auswertung treffen kann. Dies knüpfen wir aber an klare Erwartungen: Wir erwarten von der kommenden Regierung, gesellschaftliche Notwendigkeiten zu erkennen und die Krisen unserer Zeit entschieden anzugehen. Wenn in den nächsten vier Jahren weiter die Profite der Wenigen über die Bedürfnisse der Menschen und die Einhaltung des 1,5-Grad-Pfades gestellt werden, wird die Ampel-Regierung scheitern.

Damit das Möglichkeitsfenster für solidarische Politik auch genutzt wird, können wir uns nicht darauf verlassen, dass die kommende Regierung die versprochenen Projekte einfach so umsetzen wird. Wir sind als Verband das Scharnier zwischen
Bewegung und Parlament. Unsere jungen Abgeordneten werden im Parlament alles dafür geben, die hart erkämpften Maßnahmen umzusetzen und unsere Handlungsspielräume zu erweitern. Und gleichzeitig werden wir gemeinsam mit unseren Bündnispartner*innen bei uns vor Ort, auf den Straßen und in der Öffentlichkeit daran arbeiten, gesellschaftliche Mehrheiten für eine gerechte Politik zu organisieren und zu stärken.

Erfolge umsetzen – neue Möglichkeiten erkämpfen. Packen wir es an.



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